Jahresbegleiterin

Hildegard-Skulptur von Karlheinz Oswald auf dem Kirchplatz der Abtei St. Hildegard. Copyright: Abtei St. Hildegard, Rüdesheim-Eibingen

2023 - Hildegard von Bingen

Die Kirche steht derzeit an einem Wendepunkt ihrer Geschichte - weltweit und auch in Deutschland. In Krisenzeiten ist es gut, Wegweiser*innen zu haben, Gestalten, die Halt und Orientierung geben können, Männer und Frauen, die gezeigt haben, dass es sich lohnt, zu bleiben, neue Wege zu gehen und dem Wehen des Geistes Raum zu geben. Hildegard von Bingen war so ein Mensch.

Sie muss eine außergewöhnlich charismatische Persönlichkeit gewesen sein: mit großem Herz und weitem Geist, mit starker Überzeugungs- und Ausstrahlungskraft. Sie sah sich als Werkzeug Gottes, wollte die Menschen in gottvergessener Zeit an Gott erinnern. Erinnern daran, dass er, Gott, die Menschen aus Liebe erschaffen hat, dass er aus Liebe Mensch geworden und uns aus Liebe erlöst hat. Dass die Liebe also die ganze Welt bewegt und alles zusammenhält.

Hildegard hat groß vom Menschen gedacht, hat immer wieder dessen einmalige Würde als Ebenbild Gottes betont, als Teil und Mitgestalter der Schöpfung, in der alles mit allem verbunden ist und unser Tun und auch unser Unterlassen entscheidenden Einfluss haben auf das eigene Leben und auf das des ganzen Kosmos. Hildegard hat nicht weniges von dem vorausgedacht, wofür viele sich heute einsetzen: für Ehrfurcht vor allem Geschaffenen, für Friede als Frucht von Gerechtigkeit und Wahrheit, für einen barmherzigen Umgang miteinander und für einen maßvollen Umgang mit den Ressourcen der Erde. Und sie bezeugt, dass Leben nach konkreten Wertmaßstäben keine Beschränkung der Freiheit ist, sondern diese erst möglich macht. Dass eine persönliche Beziehung zu Gott und die Bindung an ihn Voraussetzung sind für ein gelingendes und sinnerfülltes Leben.

Hildegard kann auch die inspirieren, die sich heute für Geschlechtergerechtigkeit in der Kirche einsetzen. Denn sie war - trotz Krankheit und Schwäche - eine starke und selbstbewusste Frau. Sie war Äbtissin zweier Klöster, hatte ein geistliches Leitungsamt inne, das auch rechtliche, politische und wirtschaftliche Zuständigkeiten einschloss. Sie predigte in Domen und auf öffentlichen Plätzen, schrieb Mahnbriefe, hielt Bußpredigten und scheute auch nicht vor Konflikten mit Kaiser und Bischöfen zurück. Dabei ging es ihr nie um sich selbst, um Macht und Einfluss, sondern immer um die Wahrheit, um ein unerschrockenes kompromissloses, vor allem aber gelebtes Zeugnis für das Evangelium. Sie lebte, was sie lehrte, authentisch und überzeugend - beseelt vom Feuer des Heiligen Geistes.

Sr. Philippa Rath OSB